Gruppendynamik

POLITIK UND ADOLESZENZ

Spaß verstehen mit der 80-20-Formel

Text zuerst erschienen in: BLATTLINIE #2 – Das waren die Jungen Grünen

Das erste Mal auf‘s Sommercamp fahren. Der erste Rausch. Das erste junggrüne Gspusi. Neue Freund*innen in anderen Bundesländern besuchen. Gemeinsame Aktionen planen, durchführen und danach feiern. Diskutieren am Lagerfeuer. Nach dem Plenum noch auf ein Bier gehen. Das erste Mal das eigene Gesicht in der Zeitung sehen und damit die Oma stolz machen. Konflikte mit den Eltern über den eigenen politischen Aktivismus. Sich eine eigene Welt schaffen.

Abseits des politischen Auftrags einer Organisation unterschied sich das Aktivwerden bei den Jungen Grünen nicht radikal von anderen Organisationen: Der Eintritt in eine Jugendorganisation ermöglicht typische Erfahrungen des Erwachsenwerdens. Hier finden sich Gleichgesinnte, mit denen man nicht gemeinsam in die Schule geht, die oftmals nicht im bisherigen Freundinnen- und Freundeskreis waren. Die Zugehörigkeit zur Gruppe wird für viele Teil der eigenen Identität. Im Wunsch, sich zu verwirklichen, bieten Organisationen wie die Jungen Grünen die Möglichkeit zur Distinktion vom Umfeld. Jugendorganisierung funktioniert über diese Zugehörigkeit. Dazuzugehören, mitzumachen, mit anderen gemeinsam „was erleben“, so lautet die Verheißung einer Jugendorganisation.

Dabei kann nichts stressiger sein, als sich in einem neuen sozialen Umfeld zurechtzufinden, das zudem massiv reglementiert ist. Eine Jugendorganisation entwickelt eine eigene Vereinskultur: Codes und Sprache, sanktioniertes und erwünschtes Verhalten, Routine und Abläufe, die das eigene Leben mitstrukturieren. Für einen jungen Menschen ist es eine gewaltige Herausforderung, die eigene Rolle in der Gruppe zu finden. Es braucht Zeit, sich mit den Codes vertraut zu machen: die Abkürzungen (Neuko, Aktis, BV, LGBTIQ,…), die Sprache (theoriegeladen, gendern), der Habitus (Umarmungen, Awareness, Umgang mit Konflikten). Erinnerst du dich, wie du dich beim ersten Plenum, beim ersten Stammtisch, beim ersten Sommercamp gefühlt hast? Und umgekehrt, wie reagiert die Gruppe auf „den Neuen“ oder „die Neue“? Hast du dir schon mal gedacht, dass ein neuer Aktivist „einfach nicht zu uns passt“?

Gesellschaftliche Machtverhältnisse hören nicht plötzlich auf zu bestehen, nur weil man einer linken Jugendorganisation angehört. Besonders in linken Organisationen, in denen der moralische Zeigefinger oftmals wichtigstes Sanktionswerkzeug zu sein scheint, ist der soziale Stress enorm. Hinzu kommen hohe politische Ansprüche und die Ernsthaftigkeit, die wir uns als Junge Grüne auf die Fahnen geschrieben hatten. Das öffnet das Feld für weitere Abgrenzung und Unsicherheit: Wer hat die richtigen (lese: radikalsten) Ansätze in der Gruppe? Kann ich mich einbringen? Zählt meine Meinung, auch wenn ich noch keine Theorie gelesen habe?

Auch innerhalb des Plenums, in Vorständen, auf Veranstaltungen wirken Machtstrukturen. Männer preschen vor, stellen sich in den Mittelpunkt. Manche Männer kaschieren ihre Unsicherheit und fragile Männlichkeit, wollen die Gruppe (unbewusst) dominieren. In der sexistischen Rollenaufteilung kümmern sie sich um das „Politische“, während es den Frauen zufällt, sich um das „Soziale“ zu kümmern. Selbst wenn einer Gruppe oder Einzelnen auffällt, dass auch ihre Treffen nicht vor Sexismus gefeit sind, dass auch im eigenen Plenum Männer zu Machos werden, Frauen immer seltener auftauchen oder ihnen über den Mund gefahren, wird heißt das längst nicht, dass es zu einer Verbesserung kommt. Frauen aufzufordern, „jetzt endlich mal was zu sagen“, Männer individuell mit Sprechverbot zu belegen oder als Gruppe einen Neuankömmling zurechtzuweisen, weil er nicht gendert, schafft das Problem nicht aus der Welt. Die eigene Gruppe ist für viele Rückzugsort, „safe space“, aber auch die eigene Gruppe ist keine heile Welt. Es gibt Konkurrenz, Auseinandersetzung, sozialen Druck. Neue Aktivist*innen können auch Bedrohung sein: Bedrohung des eigenen Status in der Gruppe (als einziger Marx wirklich verstanden zu haben!), Bedrohung von Privilegien (kann ich dann noch auf‘s Sommercamp fahren?), Bedrohung von Verwirklichungsmöglichkeiten (warum zählt meine Idee nicht mehr so viel?).

Jede (Jugend-)Organisation ist mit diesen Herausforderungen konfrontiert. Manche ignorieren sie, tun weiter wie bisher. Wir haben uns als Organisation jedoch gezwungen, uns die Köpfe darüber zu zerbrechen, es anders zu machen. Als eine Organisation, die darauf ausgerichtet war, „so viele Menschen wie möglich zu motivieren, selber politisch aktiv zu werden für die Welt, in der sie leben wollen“ (wie in unserem Selbstverständnis formuliert), wollten wir niederschwellig arbeiten und Lust auf Politik machen. Unser Ziel war die Organisation so zu gestalten, dass sich neue Aktivist*innen schnell zurechtfinden und sich mit ihren eigenen Begabungen und nach ihren eigenen Bedürfnissen einbringen konnten. Wir sind dabei oft und grandios gescheitert. Ständig inklusiv und gendergerecht, lustvoll und politisch ernsthaft zu sein, neue Jugendliche anzulocken und alte Aktivist*innen zu halten, das ist tägliche Knochenarbeit. Aber erfolgreich zu sein, heißt mehr Menschen für linke Politik begeistern zu können.

80% der Arbeit sind die Basics, z.B. ein Plenum vorzubereiten, rechtzeitig anzukündigen, gut zu moderieren und alle Beteiligten zu involvieren oder das Plenum in sauberen und geeigneten Räumen abzuhalten. Das mag langweilig oder banal klingen, tatsächlich ist es aber ungemein erfüllend, wenn große Beteiligung in einem Plenum gelingt. Die demokratische Erfahrung in der Bezirksgruppe, das gemeinsame Gelingen der politischen Arbeit macht Politik „lustvoll“, nicht die Anzahl der getrunkenen Bier danach. Wir haben bei den Jungen Grünen viel investiert, um die Basics zum Funktionieren zu bringen: Bezirksgruppen-Handbücher, Führungskräfteklausuren, Trainings und Lehrgänge, Unterstützung vor Ort, Reflexions- und Feedbacktreffen, die Entwicklung von Genderstrategien.

Großveranstaltungen wie das Sommercamp oder die Neujahrskonferenz wurden zu Leuchtturmprojekten. Die Idee war, auch den Spaß zu institutionalisieren, damit neben unseren anspruchsvollen inhaltlichen Programmen das Soziale nicht zum Wer-Lust-hat-kann-ja-Bier-trinken verkommt. An wenig Orten war der Bruch zu anderen Organisationen spürbarer. Wenn ich auf meine Organisationsteam-Erfahrungen zurückblicke, war kaum etwas so kompliziert, so sträflich vernachlässigt und so spannend wie die Planung des Rahmenprogramms und der Gruppendynamik. Wie schafft man es, dass sich alle wohlfühlen können? Was braucht es dafür? Welche Hobbys, Vorlieben, Interessen haben neue und alte Aktivist*innen? Wie fühlen sich sowohl linksalternative Student*innen aus Wien, Lehrlinge aus Oberösterreich und Schüler*innen aus Vorarlberg, Metalheads und Hippies, Veganer*innen und Jäger*innen, Frauen und Männer wohl? Herausgekommen sind teils übertrieben minutiös geplante Ablaufpläne, aber auch wunderbare Ideen, neue Kennenlernspiele und tolle Programmpunkte: Impro-Theater-Aufführungen, Capture-the-Flag-Spiele, Morgenyoga, Lesungen, Performances, eigens entwickelte Kartenspiele (Tabü, das junggrüne Tabu), Themenpartys wie die „The Left is Undead“-Party mit linken Zombies oder die „Apocalypse Au! Die Hainburger Au-Party“, Chor-Aufführungen, Open Air Kino, Karaoke, Fackelwanderungen, Konzerte und vieles mehr. Ich habe nirgendwo mehr gelacht, mitgefühlt, geschmunzelt, gestaunt als bei Open Stages und Poetry Slams der Jungen Grünen. Das Prinzip der offenen Bühne kommt unseren Idealen wohl am nächsten: Jede und jeder kann seiner und ihrer Kreativität und Talent freien Lauf lassen. Sketche, Lieder, Texte, Akrobatik, Poesie, Leitanträge – auf den Bühnen unserer Veranstaltungen wurde allen auftretenden Personen Wertschätzung und Anerkennung entgegengebracht. Die Liebe zum Detail, die Party-Dekorationen und die Verkleidungen bei Themenpartys, personalisierte Dankes-Geschenke zum Abschluss, die gegenseitige Wertschätzung, nach mehr zu streben, noch bessere, inklusivere Programme zu entwickeln – das sind die restlichen 20% der Arbeit.

Zum Abschluss noch ein leidenschaftliches Plädoyer: Hoch leben die Kennenlernspiele! Nichts ist befreiender, als sich kollektiv lächerlich zu machen, als Pinguin in Turnhallen rumzuhopsen, Brücken aus Zahnstochern bauen zu müssen oder bei Schere-Stein-Papier-Turnieren neue Menschen kennenzulernen. Faustregel: Je kindischer die Kennenlernspiele, desto besser funktionieren sie.

Über den Autor:

Daniel Haim studierte Internationale Entwicklung und Osteuropawissenschaften in Wien sowie Economics in New York. Er arbeitete für den Verein Österreichischer Auslandsdienst. Er kam 2009 zur „Frog! Junge Grüne Plattform Vorarlberg“, den späteren Jungen Grünen Vorarlberg. Seitdem hat er sich in verschiedenen Funktionen bei den Jungen Grünen engagiert, u.a. im Bundesvorstand und in Organisationsteams für Veranstaltungen.